Kategorie: Kopf

es gibt diese namen, es gibt diese wut

„es gibt diese namen, es gibt diese wut“ ist ein kollektiv geschrieben und produziertes Hörspiel von Hannah Bründl, Mae Schwinghammer, Laura Bärtle und Anouk Doujak.
Es feierte seine Premiere im Rahmen der Politik und Gefühl Denkfabrik des Center for Literature Münster und des brut Wien.

über sexismus im literaturbetrieb. über die ansprüche, die an frauen* und männer* gestellt werden. über das opfer-werden und opfer-sein-müssen. über täter*innen und stakeholder. über die seile der vernetzung und abbindung. über misyognye aussagen, die wir selber hören mussten. über das sagen-können und benennen. über das hilflos und verletzt sein. über den druck eines betriebs, der die kunst stützen und nicht den markt nähren sollte. über einen literaturbetrieb, in dem die figur von autor*innen noch eine rolle spielt. über verlage und verleger*innen und deren hände, auf deiner taille. über geteilte wut ist doppelte kraft. was wir sagen wollten.

Nachzulesen auf brut und zu hören bei SoundCloud.

Text und Produktion: Hannah Bründl, Maë Schwinghammer, Anouk Doujak, Laura Bärtle
Gesprochen von: Josephine Hochbruck, Lea Taake, Leon Rüttinger, Rosalia Warnke
Musik: Dean Ruddock
Post-Produktion: Samson Fischer
Illustration: Anouk Doujak

Oh, so spät

Unsere Stimmen verschwinden in der hohen Decke. Vor 11 Minuten habe ich aufgehört wie bitte zu sagen. Die Musik hetzt sich selber, jemand schüttet ein Getränk aus. Das Ich von Gestern schaut mich aus ihren Augen an, ich darf nicht zu lange hinsehen, sonst verwechsle ich sie mit einem Spiegel. Zwischen Eiswürfeln werfe ihnen das Neue vor die Füße, niemand greift danach, ich werde es morgen wieder einsammeln müssen. Ein letztes Mal versuche ich mich in ihren Gesichtern festzuklammern, es ist zu laut. Ziehe das Handy aus der Tasche, sage oh, so spät, obwohl ich schon wieder die Uhrzeit vergessen habe. Es ist März, jemand hebt kurzärmelig Geld ab. Ich atme ohne Bauch, meine Stirn zieht. Zuhause sitze ich neben dem Waschbecken. Das Gestern tut weh. Auf meinem Nagellack klebt Kaugummi vom Taschentuch in meiner Jackentasche. Morgen vielleicht, denke ich.

Frühjahrs Topografien

Auf dem Weg zur Therapie schneide ich immer die selbe Straßenecke. Ich sehe nach links, dann lange hinauf. Da steht der gleiche Baum wie vor der Kirche, in der wir über Blau geredet haben.
Du meinst wir können die Bewusstseinsebenen nur neu mischen. Ich mische und sehe neue Fenster in der Albertgasse.

Wenn man Schwerlasten in genügend Watte wickelt und sachte flüstert, dann werfen auch sie weiche Schatten.

Ich bin spät dran und komme zu früh. Es ist kalt, aber die Menschen essen trotzdem Eis und ich warte auf dich. Sehe durch das Fenster des Curryladens. Ein Pärchen wischt sich gegenseitig Schweiß von der Stirn.

Meine Oberlippe ist rot von deinem Bart wie am ersten Abend, als deine Knie noch zitternden und ich mich am Tee verschluckte und zu laut lachte.

Ich schwimme zwischen Gesten und Gesichtern, finde mich in einem Spiegel und halte mich dann an Buchrücken fest. Am Fenster wird geraucht, ein Glas bricht. Ich vergrabe meine Füße unter meinen Beinen. Meine Augen haken sich in Gespräche und beim Wort Nullsummenspiel bleibe ich hängen ich wie eine Schallplatte, irgendwann knistert es nur noch. Ich fotografiere die Fliesen im Stiegenhaus. Plötzlich ist da eine Katze. Draußen donnert es.

Deine Stimme surrt und wir rennen den Montag in die Straße. Nur bei rot bleiben wir stehen, weil wir das immer so machen.

Ich google Bettwäsche und sehe mir Konzertkarten für Oktober an.

Der Toaster klickt. Das Wasser kocht. Mein Handy vibriert. Es bist nicht du, doch das ist okay, weil ich jetzt weiß, dass du da bist.

Ich schreibe eine Liste mit Namen, die mir gefallen.

Ester. Die Freundin ihrer Mutter.
Amber. Unser Hase früher.
Else. Omas Nachbarin. Erinnert mich an Kastanien.
Aaron. Klingt nach Holz.
Malve. Das Mädchen auf dem Geburtstag im Mai.

Meine Hände sind rot, weil ich keine Handschuhe anziehen wollte. Ich schiebe mein Rad in den Hinterhof. Die Schlüssel sind warm und es riecht nach nach-Hause kommen. Der Zitronenbaum wirft Blüten in meine Schuhe.

Auf der Fassade steht Verlassenschaften. Durch das Fenster sehe ich Stühle, Samt und Puppen mit schiefen Augen. Etwas in mir zieht. Vielleicht ist es der Weisheitszahn oder das Wetter.

23 und 17 mal. Ich zähle, wie oft das Wort zeigen und nicken in meinem Text vorkommt. Ich zeige es dir, du nickst.

Die Pflanze, die ich aufgegeben hatte, bekommt ein neues Blatt. Ich sortiere meine Bücher nach Farbe und schreibe eine Liste mit Worten.

Nullsummenspiel
Oberflächenspannung
Zimt
Peripherie
Topographie
Bausubstanz
Verlassenschaften
Fisimatenten
Treppenhaus
Brausehaus
Peristaltik
Desaströs
Statik
Cluster
Zitronenschaum
Kakao

Der Taxifahrer fragt mich, wie es mir geht, ich sage ja.  An der Radioanzeige steht Bülbül. Am Spiegel hängt ein Duft. Echtleder steht darauf.

Ein Socken fehlt. Wenn ich meine Wäsche wasche, ist meine Wohnung ein ganzer Wäscheständer. Über den Türen hängen Tücher, an der Türklinke die Unterwäsche. Es klingelt. Du stehst da und eigentlich wollte ich doch noch Nudeln kochen. Den Schal ziehe ich mir im Gehen an, mit einer Hand, mit der anderen halte ich deine.
Ich lese. Die Couch ist rot. Ein Mann sagt, er muss morgen auf ein Begräbnis. Auf Wiedersehen, sagt er dann. Auf Wiedersehen Peter, sagt die Arzthelferin. Wenn der Herr Doktor sie ruft, sagt sie ja mit zwei as. Jaa, sagt sie dann. Manchmal sagt sie auch zwei jaas hintereinander. Dann bekommt es zweite noch ein drittes a. Dreimal habe ich sie es noch nie sagen hören.
Komm, wir gehen. Wir essen und gähnen. Auf der Pizza schwimmt Olivenöl. Ich sage auch ja. Wie man einfach ist, habe ich mir schon früh beigebracht. Wenn ich zu lang einfach bin, dann verschwimmt mein Gesicht und ich kann es nicht mehr halten. Du siehst das, lächelst bis ich sage naja. Naja, vielleicht ist doch was.
Vor dem Fenster trägt ein Mann einen Raben und setzt ihn auf eine Parkbank.
Ich sitze in einem Café am Yppenplatz. Draußen stehen zwei Herren mit großem Gesicht. Auf dem Kühlschrank steht Heute bin ich nahe dem Wodka gebaut. Die Kellnerin lacht lange.

Morgens esse ich Apfelschnitze. Ich schneide das Gehäuse fein säuberlich hinaus. Lege sie auf einen Teller. Heute sind sie ein bisschen zu mehlig, es knackst nicht beim abbeißen. Auf dem Weg von A nach B finde ich bloß die falschen Buchstaben.

Brausebad. Ich zeige auf die Hauswand. Sowas, sagst du. War das nicht bei den Griechen, ich krame nach meinem Notizbuch. Brausen mit viel r und au. Das ist gut, das ist gut. Ich packe mein Notizbuch wieder ein. Drei Tage später google ich. Lerne viel Wissenswertes über Saunakultur und vergesse es dann wieder, bevor ich es dir erzähle.

Energiesparmodus

Die Tage wackeln. Ich wickle Tixo darum. Alles ist klebrig und ich habe vergessen, was ich eigentlich damit eingepacken wollte.
Um 8 beobachte ich Omas beim Aida und beim von Anblick rosa Zucker entschließe ich mich heute gegen das wütend und für das traurig sein. Energiesparmodus.
Wir unterhalten uns über Peristaltik und stolpern in ein Lachen, du steckst unsere Hände in deine Jackentasche.
Im Spiegel finde ich auch kein Lächeln und die Lasagnenudeln sind ausverkauft. Endlich ein Grund zu weinen, sonst hätte ich dazu noch das Tixo runterreißen müssen.
Grau grau grau ist alles was ich habe.

Orangenthymian

I.

Artischocken. Irgendwo zwischen braun und grün schwimmen meine Erinnerungen an sie. Ihre Halsbeuge roch nach Sonne und Rosmarin. Der hielt am längsten stand. Ihre Finger wuselten durch meine Haare und hinterließen den Geruch feuchter Erde. Oma, setzte ich an, doch ihre Worte purzelten schon über mich und, bis sie das erste mal Luft holte, lächelte ich nur noch.
Artischocken. Ja, vielleicht lässt sich damit die Farbe fangen. Mein Blick verhängt sich in der Decke in ihrem Schoß. Ein Stück braun-grün das geblieben ist. Kratzig. Manchmal greift ihre Hand nach Dingen, die nicht mehr da sind, ihre Bewegungen sind zu groß, wenn sie wieder vergisst, dass sie im Jetzt wohnt. Dann kleben ihre Augen am Fenster fest ohne wirklich hinzusehen.

Der Wasserkocher knackst. Thymian, Malin, ich nicke und stehe auf. Ihr Blick verschwindet wieder. Heute ist einer der grauen Tage, man sieht die gegenüberliegende Hauswand nur, wenn man sie kennt. Meine Brille beschlägt, ich balanciere die Tassen durch den Raum. Oma nimmt die heiße Tasse in ihre Hände, die zu grob für ihren restlichen Körper scheinen. Thymian. Ihre Nase wippt durch die Luft. Von nebenan hört man Klara husten. Ich denke an meine Professorin. Die Alten sterben aus ihrer Bausubstanz. Der demographischer Wandel fordert strenge Maßnahmen. Ich wünschte, von Oma wäre nicht schon so viel ihrer Substanz gestorben. Klara hört auf zu husten. Vielleicht kann man Enge nur in Relation zu erlebter Weite fühlen. Ich trinke einen Schluck.

Es klopft und Theo öffnet die Tür, ohne abzuwarten. Er wohnt in 17C, gegenüber am Gang. Wohnen wie Labormäuse hat Oma früher immer gesagt, als ihr noch nicht so viel verloren ging und sie, in Gedenken an ihren Garten, das Fensterbrett bepflanzte. Mit Erde in den Falten und unter den Fingernägeln sah die Grobheit ihrer Hände nicht aus wie ein Fremdkörper. Vielmehr wie ihr Mittelpunkt. Seitdem Oma ihren Mittelpunkt verloren hat, versuche ich, den der anderen Menschen festzulegen. Mamas war schon immer ihre nervös zuckende rechte Schulter.

Theo legt Oma eine Hand auf den Schenkel, obwohl seine Knie in der Hocke immer ganz fürchterlich knarzen. Ich habe dir Käferbohnen mitgebracht, sagt er, und schüttet den Inhalt eines kleines Papiertütchen in ihre freie Hand. Schon lange landen die Samen nicht mehr in der Erde in den Blumenkasten vor dem Fenster. Sie wandern zwischen Fingern, manchmal ist das das letzte Zeichen des Noch-Lebens, wenn Oma aus dem Fenster starrt. Vielleicht ist es für sie auch vielmehr ein Zeichen des Nicht-Mehr-Lebens, des Verlorenen. Irgendwann landen sie alle glänzend und fettig von ihrer Handcreme auf ihrem Nachtkasterl, neben dem Lavendel, der langsam zu viel Staub fängt.

Möchtest du auch einen Tee? Theo dreht sich zu mir und lächelt. Der Wasserkocher kracht, ich habe zu wenig Wasser eingefüllt. Durch das Wasserrauschen höre ich nur Fetzen. Bekommen Setzlinge. Samenfest. Ochsenherz. Umgraben, die Knie, du weißt.

Bestimmt erzählt er wieder von seinem Zweitjob am Stadtrand. Ich muss mich nicht umdrehen, um die Wärme zwischen den beiden wahrzunehmen. Zwischen Ranken und Fruchtknoten finden sie sich. Mir bleibt nur das Tee kochen. Stadtkindchen, hat Oma mich früher immer genannt und ihr Kopf wippte dabei. Sie wachsen in einer widersprüchlichen Zeit auf, meinte die Professorin.

Mama, erzähl mir von den Erdbeeren. Als ich klein war, da zuckte Mamas Schulter noch nicht so häufig. Da konnte die Uhrzeit noch nur eine Zahl sein. Dann vergrub ich meinen Kopf in ihrer Achsel und hörte zu, wie sie vom Garten erzählte. Im Juli, da wuchsen kleine Walderdbeeren zwischen den Mauerritzen und im September fielen die kleinen Äpfel auf die Wiese. Und ihr habt um die Würmer drum herum gegessen, stimmt’s? Mama nickte und strich über meinen Kopf. Im Winter, da wuchs nur… ich schlief ein und merkte es nicht, war doch beides nur Traumwelt, Leben im Innen.

Hier, dein Tee. Ich setze mich zu den beiden. Danke dir. Ich erzähl gerade von unserer neusten Liaison – Erbsen und Rhabarber. Theo grinst. Dreamteam quasi. Die sind so rischtig digge. Oma gluckst. Und Karotten und Zwiebel sind auch fix zam, bye bye Fliegen. Habt ihr das nicht auch gelernt, Malin? Hm, ja, Permakultur murmle ich. Finde ich toll, dass dein Studium so, so interdisziplinär ist! Oder hieß das transdisziplinär? Theos Worte rennen schon etwas anderem nach bevor ich ihm antworten kann. Sein Mittelpunkt sind seine Mundwinkel, denke ich. Oder seine Augenfalten.

Bin mal kurz weg, einkaufen, sage ich und lasse die Tür zufallen. Ich werde nie Walderdbeeren schmecken. Ich nehme zwei Stufen auf einmal. Kann man Fremdes vermissen?

Heute ist meine Lieblingskassiererin da. Frau R. Romana? Ronja? Ich biege zu den Tomaten ab. Kann mich nicht entscheiden, sie sehen alle gleich aus. Suche Fehler, ein Zeichen von Leben. Links liegen Auberginen. Wann sind die nochmal in Saison? Oma wüsste das. Hatte sie mir nicht von den lila Blüten erzählt? Vielleicht waren das auch die Karotten. Nein, die wachsen unter der Erde. Ich schüttle den Kopf und packe Tomaten ein.
Ich frage Frau R. nach ihrem Urlaub. Bald, sagt, sie, bald und fetzt Produkte über den Scanner. Seit Herbst komme ich extra in diesen Supermarkt. In dem um die Ecke gibt es keine Kassierer mehr und als ich im August schwitzend meine Melone abwog, beschloss ich, dass ich einfach nicht genug bonden kann mit Wilfred, der Selbstbedienungskasse. Sometimes you gotta walk the extra mile, denke ich und verabschiede mich von Frau R.

Bin wieder da! Die beiden sind dazu übergangen gemeinsam aus dem Fenster zu starren.
Ich krame nach dem Tomatenmesser und denke über Relativität nach. Esse ein Stück. Sie schmecken nur nach Konsistenz. Gestautes Wasser unter Haut. Oma hat mir früher immer erzählt, dass man in den Tomaten die Tiefe des Sommers schmeckt. Dass sie die Sonnenstunden speichern. Dann hat sie Basilikum vom Fensterbrett geholt. Ich rechne nach, vor wie vielen Sommern das Verbrennen stattgefunden hat. Der Rosmarin war der letzte. Oma, wo ist das Grün hin, hatte ich gesagt und sie hat mit dem Starren angefangen. Ihre Hände rochen nicht mehr nach feuchter Erde.
Ich drapiere die Tomaten, lasse sie unter einem Grauschleier von Salz und Pfeffer verschwimmen, der auch nichts mehr rettet.

Die beiden sitzen mir gegenüber am Esstisch. Gabeln kratzen durch die Stille über Porzellan. Ich kann noch so viele Topografien und Skalen lesen, die Welt, die die beiden hatten, kann ich nicht greifen. Ich schlucke.
Was war nochmal dieser demografische Wandel? Theos Stimme bricht durch die Stille. Die Alten sind in der Überzahl, sage ich kauend und wir, die Systemerhalter werden weniger. Wie sollen wir denn da noch erhalten? Das System, das System murmelt Theo. Außerdem sind wir mit Problemen wie soziale Polarisierung und Segregation, Pluralisierung und Heterogenisierung der Lebenstile konfrontiert, ich breche ab, die beiden sind schon wieder in ihrer eigenen Welt. Manchmal würde ich auch gerne wie sie in Gedankenperipherien verschwinden und die Sonne von gestern schmecken. Nicht nur die Relevanz von Biodiversität notieren, die Gefahr von genetischer Erosion und darauffolgende Verarmung und Verwundbarkeit zusammenfassen, sondern Erde umgraben bis die Knie weh tun und in krumme lila Karotten beißen. Ihr habt schon damals zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu 90 Prozent der Pflanzenvielfalt verloren, setze ich erneut an und dann ging das so weiter und – ich versuche Blicke zu fangen. Sorten, die ihr noch erlebt habt, bleiben mir für immer verborgen im Damals. In Spitzbergen werden in einem Bunker mehr als 850.000 Sorten behütet, wirft Theo ein, auf minus 18 Grad. Oma seufzt. Ich sehe sie an und denke, dass ihr das auch nicht hilft, wenn in den Geschäften nur Gemüsesoldaten liegen und den Tomaten die Sonne fehlt. Mit ihrem Garten ist ihr ein Stück weggebrochen, das mehr Dimensionen als seine Hektar hat. Das wiegt auch die innerstädtische Schaffung von Grünflächen und die Funktionsmischung nicht auf.
Nächsten Samstag nehme ich euch mit, versucht Theo Zerrissenes zusammen zu fädeln. Oh, oh und am 1. machen wir einen Jungpflanzenmarkt, da gibt es tolle Raritäten, fügt er hinzu. Ich stelle die Teller in die Abwasch. Falte Omas Decke. Seit drei Jahren war es nicht mehr kalt genug für den dicken Strick, doch an manchem muss man festhalten, um nicht wegzufliegen.

Ich muss dann auch mal wieder. Da schließ ich mich gleich an, meint Theo etwas zu laut. Oma helfe ich aufs Bett, drücke ihr die Samen in die Hand und einen Kuss auf die Stirn. Fahre ihr über die dünnen Haare. Bald, sage ich und kurz halten sich unsere Augen.

Theos Gang ist jünger als er, ein Schlüssel klimpert an seiner Hüfte. Im Stiegenhaus fällt mir der verblasste Nein zu Monsanto Aufnäher auf seinem Rucksack auf. Große Kämpfe zu verlieren, versetzt manche in Lähmung. Theo faselt etwas von lila Tomaten. Aber nicht alle, denke ich.

II.

Die Gießkanne ist fast so groß wie Aaron und als wir beim Beet ankommen, ist nur noch die Hälfte des Wasser darin. Erzähl mir vom Thymian, Mama. Lächelnd nehme ich ihm die Gießkanne aus der Hand. Der Lieblingstee eurer Großmutter war Thymian. Als ich klein war, wucherten auf ihrem Fensterbrett verschiedenste Sorten. Orangenthymian, Bergthymian, Zitronenthymian. Und Rosmarin, stimmt’s? Ja, Rosmarin auch. Ich bücke mich vorsichtig, um Malve nicht zu wecken, die auf meinem Rücken schläft. Schau mal, da drüben, mit den kleinen feinen Blättern – holst du mir ein Büschel? Aaron nickt.
Wir packen alles auf das Rad, heute ist kein grauer Tag. Die sind wieder weniger geworden. Ich atme tief ein. Als wir um die Steinmauer biegen, steht Theo schon da. Aaron streckt ihm das Büschel Grün entgegen. Thymian, Orangenthymian, sagt Theo nickend. Den mochte Omama am liebsten, erklärt ihm Aaron stolz. Theo lächelt. Ich weiß.

Wir gehen ein Stück durch die Schotterweggänge. Vor einem Meer aus Grün und Braun bleiben wir stehen. Käferbohnen ranken sich um blaue Tomaten, unten schimmert Rosa durch die großen Blätter des Rhabarber. Den Stein dahinter und seine Inschrift sieht man kaum. Ich hatte ganz vergessen, wie viele Samen ich ihr mitgebracht hatte. Ja, hast du. Ich sehe Theo von der Seite an. Schön, dass sie jetzt alle hier wachsen. Ich nicke. Es hätte ihr gefallen. Deshalb habe ich sie eingesetzt. Unsere Blicke treffen sich.
Aaron pflückt Bohnen und lässt sie durch seine kleinen Finger spielen.
Als Oma im Sommer des letzten Rosmarins und der Hitze ihren Mittelpunkt verlor, habe ich angefangen meinem nachzujagen. Fremdes lässt sich nicht einfangen. Aber manchmal kann man finden, was andere verloren haben. Ich begutachte die Erde unter meinen Fingernägeln. Malve wacht auf, ich schaukle sie wieder in den Schlaf. Also ich würde mich ja nicht mehr trauen, in diese Welt Kinder zu setzen, meinte Emilia beim Kaffee trinken gestern. Aaron stolpert auf mich zu. Ich nehme ihn bei der Hand und wir gehen zurück zum Fahrrad. Weißt du, man weiß nie, wann und wo etwas wächst. Er nickt müde. Manches muss man trotzdem behüten und wachsen lassen. Ich hebe ihn in seinen Sitz, wusle durch seine Haare. Er riecht nach Sonne und feuchter Erde.
Wir winken Theo, er winkt mit Orangenthymian in der Hand zurück.
Es geht nicht immer ums Trauen, Emilia, hatte ich gesagt. Nicht immer ums Große Ganze. Manches passiert und das darf auch gut werden.
Als ich in unsere Straße biege, schlafen die zwei tief. Meine zwei Mittelpunkte. Meine Achsen.
Der Wasserkocher knackst. Irgendwo zwischen Grün und Braun leben meine Erinnerungen an sie. Manches muss man behüten und wachsen lassen. Draußen rennt Aaron. Vielleicht sind seine Bewegungen groß genug, um im Jetzt zu wohnen.

Sie müssen ja nicht Arschloch sagen

Ist ihnen bewusst, dass die Angst ihre ist? Ich sehe die Grünlilie an. Ja, vielleicht.
Die Blätter haben braune Spitzen. Dass es eine alte Angst ist? Hm, ja. In welche Tasche habe ich sie eingesteckt, überlege ich.
Ich verschränke meine Hände hinter dem Stuhlrücken, mein Nacken knackst.
Sie dürfen auch wütend sein. Ich nicke. Sie müssen ja nicht Arschloch sagen. Ein guter Ratschlag. Das habe ich sowieso noch nie. Die Vorhänge sind hinter der Heizung eingeklemmt. Passt es für heute? Ich hole meinen Geldbeutel aus der Tasche.
Fahre mit dem Fahrrad gegen die Einbahn, schneller als die Angst läuft.
Der Briefträger drückt mir im Stiegenhaus einen Brief in die Hand. Ich schlitze ihn im gehen mit dem Schlüssel auf. Den Brief. Du wärst stolz auf mich, das bist du öfters.
Die Lasagne esse ich kalt, höre fick dich allee und übe ein bisschen wütend sein.
Die Zitrone an meinem Baum ist jetzt schon so groß, wie eine dieser Kapern mit langem Stiel. Ich habe mich nie entschieden, ob ich die mag.
Draußen ist heute Herbst im Mai, ich atme in meinen dicken Schal. Am Gürtel ist auf der Bodenmarkierung doch keine Pistole durchgestrichen, wie ich immer dachte. Inlineskates, es sind bloß rollende Schuhe.
Ich schiebe mein Rad in deine Gasse, eine Einbahn am Tag reicht. Dicker Pulli sagst du, ich nicke und manchmal ist die Welt sanfter als man denkt.

Fliegende Tage

Der Zucker fliegt über den Tisch. Wir reden über Fliederlila und Rostbraun und haben beide noch nie Kaiserschmarrn gemacht. Um uns Menschenmurmeln, kugelnde Stimmen in warmer Luft. Den Kaffee trinken wir Frappé, meine Eiswürfel schmelzen schneller als deine. Ich schiebe dir einen Zettel über den Tisch, dass unser Nachbarn uns belauscht. Später meinst du, er hat eine halbe Stunde dieselbe Seite in seinem Buch gelesen.
Ich überlege, ob ich meine Tage zum Fenster hinaus schmeiße, du zuckst die Schultern. Just have fun, meinte meine Mutter. Zu viel Freiheit ist auch weird sagst du, wir lachen und ich nehme mir vor heute noch was für die Uni zu lernen. Ich schiebe mein Fahhrrad neben dir, du erzählst mir von orangen Haaren. 

Am Küchentisch lese ich ihre Nachricht. Möchtest du ein bisschen tanzen kommen? Bis gleich tippe ich und ziehe meine Jacke, die wie ein übermütiger Teppich aussieht an. Ich biege in den Burggarten, eine Frau mit Harfe sitzt an einer Ecke und ein Mann fotografiert seine Frau vor dem Brunnen. Wir stehen am Heldenplatz, sie grinst mir unter ihren Stirnfransen zu und auf der Bühne tanzt eine Frau in Sari mit blauem Nagellack. Eine Person mit grauen langen Haaren weht eine Europafahne. Auf ihrem T-Shirt steht Gast auf Erden. Die Menschen tanzen mit viel Schultern und Hüfte und alles sieht leicht aus. Mein Radhelm klopft bei jeder Bewegung gegen mein Bein.
Wir sitzen im Gras, jemand erzählt etwas über WG-Dynamiken, ich muss husten von der Nebenmaschine.
Wie ist dein Sexleben, fragt mich jemand, ich möchte kein Bier kaufen und starre die Pizza am Kiosk an. Sie sieht auch wie Plastik. Auf einer Bank sitzt ein Mann, isst einen Apfel und kommt sich jung vor. Da ist der Typ vom Donaukanal sagt jemand. Der, der immer in weißer Unterhose baden geht, sage ich nickend. Mein Weisheitszahn zieht. Ich geh dann mal, bis dann. Niemand weiß, wann dann ist. Ich schiebe mein Rad an den Rosen vorbei, die Frau mit Harfe ist verschwunden.
In der Josefstadt reinigt ein Mann sein Auto mit einem Hochdruckreiniger.
Meine Wahlkarte ist immer noch nicht angekommen.

Leise und leicht

Es regnet. Ich schreibe mich aus, lese es vier mal, sende es einmal meiner Mama per E-Mail und gieße den Kaktus. Sitze am Klo und frage mich, was habe ich noch zu sagen habe. Das Leben ist leise. Vielleicht etwas zu Ehrlichkeit. Oder zu Nähe.
Es klingelt, R. bringt mir meine Lieblingsnudeln mit und wir sitzen am Sofa. Ich habe auch keine Antworten, aber wir sind jetzt beide da und trinken Tee.
Ich denke an unsere Gespräche, als ich nachts um 3 Wäsche zur Beruhigung aufhängte und sie im Zug saß irgendwo in Australien.

Abends esse ich komische Kombinationen aus meinem Kühlschrank, öffne einen Hosenknopf und lege mich quer ins Bett. Du erzählst mir von deinem Tag und dann muss ich auch schon los.

Ich sitze auf dem einzelnen Platz in Fahrtrichtung und lese. Die Sätze sind kurz, ich hätte gern einen Leuchtstift.
Bei der Garderobe warte ich. Mein Blick verhakt sich in einen Typ mit Mütze. Sie hört kurz über den Ohren auf. Die Mütze. Ich muss an eine Krone denken. Dann fällt es mir ein. Bist du der, mit dem roten Umhang auf OkCupid würde ich gern fragen. Bin mir zu 87 % sicher. Zahlen waren noch nie meine Stärke.

Wir stehen an eine Wand gelehnt. Sie trägt roten Lippenstift und sieht schön aus. Beim Erzählen vergesse ich mein Gesicht, kann es beim Reden nicht spüren, die Worte fliegen ohne mich. Ich kann ihnen dabei zusehen. Versuche mich zu erinnern, wie meine Lippen aussehen, zu hören wie meine Stimme klingt. Er studiert Informatik, sagt sie. Menschen reden jetzt mit mir über Liebe, ich muss nicht mehr mit den Schultern zucken.

Neben mir tanzt eine ältere Frau mit ihren Ellbogen. Es sieht ein bisschen aus, als würde sie schnell Schlittschuh laufen. Ich grinse ein bisschen und ein bisschen würde ich mich auch gerne so fühlen können.

Wien ist klein, sage ich jetzt zum vierten Mal die Woche. Nah bei der Bühne sehe ich meinen Babysitter von früher. Er hat jetzt keinen Stimmbruch mehr, sondern eine Freundin, die wie Hashtag Powerfrau aussieht. Sie trägt ihre Haare im Nacken geknotet, eine Strähne fällt hinaus, sie hat heute bestimmt einen wilden Tag. Einfach mal die Sau rauslassen, aber nach Kalendereintrag.
Der Mann vor mir riecht nach Second Hand Shop und alter Adidasjacke.
Mine wirft die Hände ich die Luft, ich wäre auch gerne einmal so leicht. Überlege, ob ich dazu auch einen Leopardenkimono bräuchte. Traue mich meine Hände nur bis zur Brust zu heben. Mine ruft lit. Oder vielleicht muss ich mehr schwarz tragen. Ich habe Lust auf tanzen. Oder eine Brille. Meine Haare sind schon wieder so lang. Der Babysitter fühlt die Musik hart. Ich schließe die Augen und schüttle den Kopf langsam.

Es regnet immer noch. Ich fotografiere rosa Stühle. Im Bett schreibe ich eine Liste mit coolen Frauen.

Mine
Margarete Stokowski
Marie Luise Lehner
Ekaterina Heider
Meine Therapeutin
Helene Bukowski

Die Vögel fahren Zug

WIEN

Samstags finde ich meine Sorgen nicht. In der Piaristengasse sind die Hauseingänge frisch gespült. Ich trage gelbe Socken und habe aufgehört auf Zehenspitzen zu leben. Du sagst, du magst wie mein Bad riecht.

Im Bus sitzt ein Mann mit Roggenmehl in der Jackentasche. An einer Ecke steht ein einsames Bobbycar. Das Leben rennt schneller als ich und ich muss das Navi noch aktualisieren. Plötzlich ist der Mann weg.

In der Pause schicke ich dir eine Aufnahme der Vögel im Park. Eine Frau mit orangem Make Up regt sich auf, dass montags noch der Teletext von Sonntag lief. Ihre Freundin wippt mit dem Kopf. Ein Kind fällt vom Roller und wartet auf die Reaktion der Mutter.

Donnerstags zerbröselt alles, obwohl die Sonne scheint. Meine Hand greift nach dir und landet bloß am Glasrand, ich trinke einen Schluck und mein Blick rutscht aus deinem Gesicht ab. Die Worte sind klebrig.

Wir schweigen in Teetassen bis die Uhr zu laut tickt. Ich drücke dich trotzdem zum Abschied, meine Finger fühlen sich in deinen Haaren zuhause. Dein Blick bleibt hängen, bevor dich das Treppenhaus verschluckt.

LJUBLJANA

Die Sahne verfließt. Beim Lesen kräuselst du deine Nase. Weiß und klebrig. Du schiebst den Teller an den Tischrand. Die Uhr zeigt bloß Zahlen.
Es regnet und du steckst unsere Hände gemeinsam in deine Jackentasche.
Die Häuser stehen wie wilde Zähne nebeneinander. Muster neben Grau, Jugendstil neben Ostblock neben Puppenhaus. Nur auf die Giebel einigen sie sich. Die sitzen wie kleine Partyhüte auf den Dächern. An einer Kreuzung hängt ein Kronleuchter in die Gasse.
Ich deute auf Schriften und Balkone, du nickst. Das Wasser fließt ein bisschen blauer als in Wien. Ich erzähle dir von Kinderfilmen und Sommer, du zeigst mir deine Lieblingstür. Der Griff ist golden, von all den Händen und dem Öffnen. In der Kirche sind wir gemeinsam leise, nicken und gehen wieder. Graffiti werden übermalt, Regen sammelt sich zwischen Pflastersteinen, die Notwendigkeit von Gummistiefeln in der Stadt findest du fragwürdig. Dann verschwinden wir in den dritten Stock im Haus am Ende der Welt. Züge fahren durch, am Fenster vorbei oder werfen ein paar Wagons neben dem Garten ab. Im Flur ist das Fensterglas milchig und blumig. Die Bettdecken sind abgelegen weich. Dein Nacken riecht warm und beim Einschlafen zucken deine Arme.

Wir fahren an einen See. Du lächelst ein bisschen zu sehr, Touristen lassen dich Fotos machen. Sie sehen sie sich an, alle nicken und wir gehen weiter die Burg hinauf. Du zeigst mir Wolken. Neben einem Fels wachsen Kiefern. Ich kann endlich wieder atmen und sehe in deinen Augen, dass du es auch tust.

Dunkle Autobahngespräche, deine Hand auf meinem Knie, unterbrochen vom Schalten.
In der zweiten Nacht fügen sich die Knautscher im Kissen um Schlüsselbeine und mir ist endlich nicht mehr kalt. Die Vögel fahren Zug vor dem Fenster.

Auf der Rückfahrt reden wir Kurven und Ecken voll, das Schweigen dazwischen ist weich. Raststättenklos. Du wirfst einen Euro hinein, gehst durch das Drehkreuz und drückst mir die 50 Cent Rausgeld warm in die Hand, als wäre es eine Choreografie, mit Übung im Bauch. Ich schiebe die Sonnenbrille in die Haare, sehe dich an und fühle mich sicher.

WIEN

Am Tisch stehen noch die Tassen. Ich gieße die Pflanzen und beginne abzuwaschen, bis die Teeränder verschwinden. Du rufst an, einfach so. Wir sagen hi und hören uns lächeln.

Sommerblau

In der Florianigasse laufe ich blind gegen das Licht. Du schreibst mir deine Träume. Bei der Votivkirche riecht es aus einer Gasse nach Suppe, Touristen steigen in Busse. Im Park sehe ich wie jedes Mal den Volleyballplatz und denke an deinen Freund, den ich nicht kenne.
Vor dem Justizpalast liegt ein Stück Speck am Boden. Ich warte lange an der Ampel. Wenn ich müde werde, denke ich an alles was mich wütend macht und laufe schneller, bis wieder alles egal ist. An einer Ecke sitzen Menschen auf Hochstühlen, trinken Kaffee und es riecht nach Süßstoff und den in Plastik verpackten Milchbrötchen, die ich als Kind nie essen durfte. Du rufst an, ich erzähle dir von meinen Träumen, bis ich in das Unigebäude biege und keine Luft bekomme, weil dort frisch gemähter Rasen liegt oder die Treppe zu lange ist.
Ich höre meinem Zitronenbaum beim Trinken zu. Mein zweiter Zeh wirft Blasen. Vor dem Fenster kann ich die Pollen fliegen sehen. Esse ein Blatt Klee und stehe eine Weile in einem Sonnenfleck am Boden.
Drei Männer kuscheln in der ersten Reihe eines Lastwagens. Eine Mutter sagt laut Sag-a-mal.
Wir zeigen uns gegenseitig schöne Frauen. Ich muss noch darüber nachdenken was ich trinken möchte. Der Kellner geht wieder.
Der Himmel ist schon ein bisschen Sommer blau. Ich habe Lust auf tanzen, du arbeitest morgen und küsst im gehen in die Luft.
Ich sitze neben dem Waschbecken und betrachte meine Beine. Überlege, wie viel Zweifel gut sind. Die meisten eingewachsenen Haare sind doch Muttermale. Ich weiß ja nicht mal, was blau eigentlich ist. Niemand weiß das wirklich und trotzdem ist so viel blau. Wir können uns genauso einbilden, das blau da ist und dann ist es da.
Ich suche Nachtbusse für meinen Bruder heraus und sende sie meiner Mutter.
Meine Pflanzen werfen Schatten hinter den Schreibtisch, ich mache das Licht aus, bis nichts mehr da ist. Meine Bettdecke war mal gelb, aber was weiß man schon. Ich glaube, du hast schon drei Wochen nicht mehr bei mir übernachtet.