Schlagwort: Kurzgeschichte

Orangenthymian

I.

Artischocken. Irgendwo zwischen braun und grün schwimmen meine Erinnerungen an sie. Ihre Halsbeuge roch nach Sonne und Rosmarin. Der hielt am längsten stand. Ihre Finger wuselten durch meine Haare und hinterließen den Geruch feuchter Erde. Oma, setzte ich an, doch ihre Worte purzelten schon über mich und, bis sie das erste mal Luft holte, lächelte ich nur noch.
Artischocken. Ja, vielleicht lässt sich damit die Farbe fangen. Mein Blick verhängt sich in der Decke in ihrem Schoß. Ein Stück braun-grün das geblieben ist. Kratzig. Manchmal greift ihre Hand nach Dingen, die nicht mehr da sind, ihre Bewegungen sind zu groß, wenn sie wieder vergisst, dass sie im Jetzt wohnt. Dann kleben ihre Augen am Fenster fest ohne wirklich hinzusehen.

Der Wasserkocher knackst. Thymian, Malin, ich nicke und stehe auf. Ihr Blick verschwindet wieder. Heute ist einer der grauen Tage, man sieht die gegenüberliegende Hauswand nur, wenn man sie kennt. Meine Brille beschlägt, ich balanciere die Tassen durch den Raum. Oma nimmt die heiße Tasse in ihre Hände, die zu grob für ihren restlichen Körper scheinen. Thymian. Ihre Nase wippt durch die Luft. Von nebenan hört man Klara husten. Ich denke an meine Professorin. Die Alten sterben aus ihrer Bausubstanz. Der demographischer Wandel fordert strenge Maßnahmen. Ich wünschte, von Oma wäre nicht schon so viel ihrer Substanz gestorben. Klara hört auf zu husten. Vielleicht kann man Enge nur in Relation zu erlebter Weite fühlen. Ich trinke einen Schluck.

Es klopft und Theo öffnet die Tür, ohne abzuwarten. Er wohnt in 17C, gegenüber am Gang. Wohnen wie Labormäuse hat Oma früher immer gesagt, als ihr noch nicht so viel verloren ging und sie, in Gedenken an ihren Garten, das Fensterbrett bepflanzte. Mit Erde in den Falten und unter den Fingernägeln sah die Grobheit ihrer Hände nicht aus wie ein Fremdkörper. Vielmehr wie ihr Mittelpunkt. Seitdem Oma ihren Mittelpunkt verloren hat, versuche ich, den der anderen Menschen festzulegen. Mamas war schon immer ihre nervös zuckende rechte Schulter.

Theo legt Oma eine Hand auf den Schenkel, obwohl seine Knie in der Hocke immer ganz fürchterlich knarzen. Ich habe dir Käferbohnen mitgebracht, sagt er, und schüttet den Inhalt eines kleines Papiertütchen in ihre freie Hand. Schon lange landen die Samen nicht mehr in der Erde in den Blumenkasten vor dem Fenster. Sie wandern zwischen Fingern, manchmal ist das das letzte Zeichen des Noch-Lebens, wenn Oma aus dem Fenster starrt. Vielleicht ist es für sie auch vielmehr ein Zeichen des Nicht-Mehr-Lebens, des Verlorenen. Irgendwann landen sie alle glänzend und fettig von ihrer Handcreme auf ihrem Nachtkasterl, neben dem Lavendel, der langsam zu viel Staub fängt.

Möchtest du auch einen Tee? Theo dreht sich zu mir und lächelt. Der Wasserkocher kracht, ich habe zu wenig Wasser eingefüllt. Durch das Wasserrauschen höre ich nur Fetzen. Bekommen Setzlinge. Samenfest. Ochsenherz. Umgraben, die Knie, du weißt.

Bestimmt erzählt er wieder von seinem Zweitjob am Stadtrand. Ich muss mich nicht umdrehen, um die Wärme zwischen den beiden wahrzunehmen. Zwischen Ranken und Fruchtknoten finden sie sich. Mir bleibt nur das Tee kochen. Stadtkindchen, hat Oma mich früher immer genannt und ihr Kopf wippte dabei. Sie wachsen in einer widersprüchlichen Zeit auf, meinte die Professorin.

Mama, erzähl mir von den Erdbeeren. Als ich klein war, da zuckte Mamas Schulter noch nicht so häufig. Da konnte die Uhrzeit noch nur eine Zahl sein. Dann vergrub ich meinen Kopf in ihrer Achsel und hörte zu, wie sie vom Garten erzählte. Im Juli, da wuchsen kleine Walderdbeeren zwischen den Mauerritzen und im September fielen die kleinen Äpfel auf die Wiese. Und ihr habt um die Würmer drum herum gegessen, stimmt’s? Mama nickte und strich über meinen Kopf. Im Winter, da wuchs nur… ich schlief ein und merkte es nicht, war doch beides nur Traumwelt, Leben im Innen.

Hier, dein Tee. Ich setze mich zu den beiden. Danke dir. Ich erzähl gerade von unserer neusten Liaison – Erbsen und Rhabarber. Theo grinst. Dreamteam quasi. Die sind so rischtig digge. Oma gluckst. Und Karotten und Zwiebel sind auch fix zam, bye bye Fliegen. Habt ihr das nicht auch gelernt, Malin? Hm, ja, Permakultur murmle ich. Finde ich toll, dass dein Studium so, so interdisziplinär ist! Oder hieß das transdisziplinär? Theos Worte rennen schon etwas anderem nach bevor ich ihm antworten kann. Sein Mittelpunkt sind seine Mundwinkel, denke ich. Oder seine Augenfalten.

Bin mal kurz weg, einkaufen, sage ich und lasse die Tür zufallen. Ich werde nie Walderdbeeren schmecken. Ich nehme zwei Stufen auf einmal. Kann man Fremdes vermissen?

Heute ist meine Lieblingskassiererin da. Frau R. Romana? Ronja? Ich biege zu den Tomaten ab. Kann mich nicht entscheiden, sie sehen alle gleich aus. Suche Fehler, ein Zeichen von Leben. Links liegen Auberginen. Wann sind die nochmal in Saison? Oma wüsste das. Hatte sie mir nicht von den lila Blüten erzählt? Vielleicht waren das auch die Karotten. Nein, die wachsen unter der Erde. Ich schüttle den Kopf und packe Tomaten ein.
Ich frage Frau R. nach ihrem Urlaub. Bald, sagt, sie, bald und fetzt Produkte über den Scanner. Seit Herbst komme ich extra in diesen Supermarkt. In dem um die Ecke gibt es keine Kassierer mehr und als ich im August schwitzend meine Melone abwog, beschloss ich, dass ich einfach nicht genug bonden kann mit Wilfred, der Selbstbedienungskasse. Sometimes you gotta walk the extra mile, denke ich und verabschiede mich von Frau R.

Bin wieder da! Die beiden sind dazu übergangen gemeinsam aus dem Fenster zu starren.
Ich krame nach dem Tomatenmesser und denke über Relativität nach. Esse ein Stück. Sie schmecken nur nach Konsistenz. Gestautes Wasser unter Haut. Oma hat mir früher immer erzählt, dass man in den Tomaten die Tiefe des Sommers schmeckt. Dass sie die Sonnenstunden speichern. Dann hat sie Basilikum vom Fensterbrett geholt. Ich rechne nach, vor wie vielen Sommern das Verbrennen stattgefunden hat. Der Rosmarin war der letzte. Oma, wo ist das Grün hin, hatte ich gesagt und sie hat mit dem Starren angefangen. Ihre Hände rochen nicht mehr nach feuchter Erde.
Ich drapiere die Tomaten, lasse sie unter einem Grauschleier von Salz und Pfeffer verschwimmen, der auch nichts mehr rettet.

Die beiden sitzen mir gegenüber am Esstisch. Gabeln kratzen durch die Stille über Porzellan. Ich kann noch so viele Topografien und Skalen lesen, die Welt, die die beiden hatten, kann ich nicht greifen. Ich schlucke.
Was war nochmal dieser demografische Wandel? Theos Stimme bricht durch die Stille. Die Alten sind in der Überzahl, sage ich kauend und wir, die Systemerhalter werden weniger. Wie sollen wir denn da noch erhalten? Das System, das System murmelt Theo. Außerdem sind wir mit Problemen wie soziale Polarisierung und Segregation, Pluralisierung und Heterogenisierung der Lebenstile konfrontiert, ich breche ab, die beiden sind schon wieder in ihrer eigenen Welt. Manchmal würde ich auch gerne wie sie in Gedankenperipherien verschwinden und die Sonne von gestern schmecken. Nicht nur die Relevanz von Biodiversität notieren, die Gefahr von genetischer Erosion und darauffolgende Verarmung und Verwundbarkeit zusammenfassen, sondern Erde umgraben bis die Knie weh tun und in krumme lila Karotten beißen. Ihr habt schon damals zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu 90 Prozent der Pflanzenvielfalt verloren, setze ich erneut an und dann ging das so weiter und – ich versuche Blicke zu fangen. Sorten, die ihr noch erlebt habt, bleiben mir für immer verborgen im Damals. In Spitzbergen werden in einem Bunker mehr als 850.000 Sorten behütet, wirft Theo ein, auf minus 18 Grad. Oma seufzt. Ich sehe sie an und denke, dass ihr das auch nicht hilft, wenn in den Geschäften nur Gemüsesoldaten liegen und den Tomaten die Sonne fehlt. Mit ihrem Garten ist ihr ein Stück weggebrochen, das mehr Dimensionen als seine Hektar hat. Das wiegt auch die innerstädtische Schaffung von Grünflächen und die Funktionsmischung nicht auf.
Nächsten Samstag nehme ich euch mit, versucht Theo Zerrissenes zusammen zu fädeln. Oh, oh und am 1. machen wir einen Jungpflanzenmarkt, da gibt es tolle Raritäten, fügt er hinzu. Ich stelle die Teller in die Abwasch. Falte Omas Decke. Seit drei Jahren war es nicht mehr kalt genug für den dicken Strick, doch an manchem muss man festhalten, um nicht wegzufliegen.

Ich muss dann auch mal wieder. Da schließ ich mich gleich an, meint Theo etwas zu laut. Oma helfe ich aufs Bett, drücke ihr die Samen in die Hand und einen Kuss auf die Stirn. Fahre ihr über die dünnen Haare. Bald, sage ich und kurz halten sich unsere Augen.

Theos Gang ist jünger als er, ein Schlüssel klimpert an seiner Hüfte. Im Stiegenhaus fällt mir der verblasste Nein zu Monsanto Aufnäher auf seinem Rucksack auf. Große Kämpfe zu verlieren, versetzt manche in Lähmung. Theo faselt etwas von lila Tomaten. Aber nicht alle, denke ich.

II.

Die Gießkanne ist fast so groß wie Aaron und als wir beim Beet ankommen, ist nur noch die Hälfte des Wasser darin. Erzähl mir vom Thymian, Mama. Lächelnd nehme ich ihm die Gießkanne aus der Hand. Der Lieblingstee eurer Großmutter war Thymian. Als ich klein war, wucherten auf ihrem Fensterbrett verschiedenste Sorten. Orangenthymian, Bergthymian, Zitronenthymian. Und Rosmarin, stimmt’s? Ja, Rosmarin auch. Ich bücke mich vorsichtig, um Malve nicht zu wecken, die auf meinem Rücken schläft. Schau mal, da drüben, mit den kleinen feinen Blättern – holst du mir ein Büschel? Aaron nickt.
Wir packen alles auf das Rad, heute ist kein grauer Tag. Die sind wieder weniger geworden. Ich atme tief ein. Als wir um die Steinmauer biegen, steht Theo schon da. Aaron streckt ihm das Büschel Grün entgegen. Thymian, Orangenthymian, sagt Theo nickend. Den mochte Omama am liebsten, erklärt ihm Aaron stolz. Theo lächelt. Ich weiß.

Wir gehen ein Stück durch die Schotterweggänge. Vor einem Meer aus Grün und Braun bleiben wir stehen. Käferbohnen ranken sich um blaue Tomaten, unten schimmert Rosa durch die großen Blätter des Rhabarber. Den Stein dahinter und seine Inschrift sieht man kaum. Ich hatte ganz vergessen, wie viele Samen ich ihr mitgebracht hatte. Ja, hast du. Ich sehe Theo von der Seite an. Schön, dass sie jetzt alle hier wachsen. Ich nicke. Es hätte ihr gefallen. Deshalb habe ich sie eingesetzt. Unsere Blicke treffen sich.
Aaron pflückt Bohnen und lässt sie durch seine kleinen Finger spielen.
Als Oma im Sommer des letzten Rosmarins und der Hitze ihren Mittelpunkt verlor, habe ich angefangen meinem nachzujagen. Fremdes lässt sich nicht einfangen. Aber manchmal kann man finden, was andere verloren haben. Ich begutachte die Erde unter meinen Fingernägeln. Malve wacht auf, ich schaukle sie wieder in den Schlaf. Also ich würde mich ja nicht mehr trauen, in diese Welt Kinder zu setzen, meinte Emilia beim Kaffee trinken gestern. Aaron stolpert auf mich zu. Ich nehme ihn bei der Hand und wir gehen zurück zum Fahrrad. Weißt du, man weiß nie, wann und wo etwas wächst. Er nickt müde. Manches muss man trotzdem behüten und wachsen lassen. Ich hebe ihn in seinen Sitz, wusle durch seine Haare. Er riecht nach Sonne und feuchter Erde.
Wir winken Theo, er winkt mit Orangenthymian in der Hand zurück.
Es geht nicht immer ums Trauen, Emilia, hatte ich gesagt. Nicht immer ums Große Ganze. Manches passiert und das darf auch gut werden.
Als ich in unsere Straße biege, schlafen die zwei tief. Meine zwei Mittelpunkte. Meine Achsen.
Der Wasserkocher knackst. Irgendwo zwischen Grün und Braun leben meine Erinnerungen an sie. Manches muss man behüten und wachsen lassen. Draußen rennt Aaron. Vielleicht sind seine Bewegungen groß genug, um im Jetzt zu wohnen.